Traditionell begann der Premieren-Sonntag mit einem feierlichen Festumzug: Vorstand und Mitglieder des Passionsspielvereins in Begleitung der Fahnenabordnung, die Kassettlfrauen, der Trachtenverein, die Gemeindeabgeordneten, die örtliche Feuerwehr, die Schützenkompanie, der Kameradschaftsbund, die Musikkapelle, Landeshauptmann, Bischof, Pfarrer und die Ehrengäste marschierten in festlicher Aufstellung vor dem Passionsspielhaus auf.
Nicht zuletzt war das künstlerische Team der Passionsspiele vollständig versammelt. Im Anschluss an den Festumzug fand ein feierlicher Gottesdienst statt – direkt im Bühnenbild der neuen Inszenierung. Dieses besondere spirituelle Erlebnis wird auch an allen Spiel-Sonntagen angeboten und verbindet religiöse Tiefe mit der beeindruckenden Ästhetik der Bühne.
Die anschließende Begrüßung erfolgte durch den Obmann des Passionsspielvereines Karl Anker, Bürgermeister Georg Aicher-Hechenberger und Landeshauptmann Anton Mattle sowie in Anwesenheit zahlreicher Ehrengäste, die die besondere Bedeutung dieses Tages unterstrichen.
Die Politik war hochrangig vertreten: Landeshauptmann Anton Mattle, Landeshauptmann-Stellvertreter Philipp Wohlgemut, Landtagsabgeordnete Barbara Schwaighofer, Bezirkshauptmann Kurt Berek sowie die Bürgermeister der Region – Georg Aicher-Hechenberger (Erl), Josef Ritzer (Ebbs) und Ekkehard Wimmer (Walchsee) – wohnten der Premiere bei.
Aus der Kirche waren unter anderem Erzbischof Franz Lackner und der Weihbischof Rupert Graf angereist, außerdem anwesend waren Herwig van Staa von der Tiroler Landesgedächtnisstiftung, Melanie Wiener von der Kulturabteilung des Landes Tirol, Josef Hechenberger, Präsident der Landwirtschaftskammer, sowie Bezirksfeuerwehrkommandant Andreas Oblasser.
Ein Spiel vom Leben und Sterben
Um 13.30 Uhr begann dann die Premiere – spürbar war eine fast greifbare Spannung im Saal: Es ist Marias Schrei, der Jesus ins Leben ruft – sein erster Schrei wiederum ist Antwort und düsterer Vorbote zugleich. Von Beginn an liegt der Schatten des Todes über seinem Leben. Schon nach den ersten Szenen wird das Kreuz erstmals errichtet: Eine düstere Prophezeiung, aber nicht das Ende dieser neuen Erzählung aus Erl.
Der erwachsene Jesus betritt die Bühne als ein Mensch im Balanceakt – sein Weg beginnt auf einer weißen Treppe, die sich diagonal über die Originalbühne streckt, ohne Anfang und ohne Ende. Das vielsagende Bühnenbild wurde von Hartmut Schörghofer gestaltet, der bereits Erfahrungen mit dem historischen Bühnenraum gesammelt hat. Für den Jesusdarsteller – Stefan Pfisterer spielt die Premiere, Christoph Esterl wird die Derniere geben – droht jede Bewegung zum Fall zu werden. Doch geht er diesen Weg freiwillig immer weiter. Eine Regieentscheidung von starker Symbolkraft: Jesus weiß, worauf er sich einlässt.
Klangwelt zwischen Himmel und Erde
Der fragmentierte Berg als zweites Bühnenelement öffnet und schließt sich – je nachdem, wie es die Szene verlangt. Dadurch nahezu unsichtbar, aber akustisch stets präsent ist das 25-köpfige Orchester unter der Leitung von Toni Pfisterer. Präzise geführt und musikalisch auf den Punkt.
Alles Spiel der Schauspieler:innen ist in die klanggewaltige Musik von Christian Kolonovits eingebettet. Der Chor beeindruckt mit stimmlicher Wucht, die Kompositionen wirken groß, fast überlebensgroß – sie erinnern an epische Erzählungen, wie man sie aus dem Kino kennt. Die versprochene cineastische Ausgestaltung der Komposition ist Christian Kolonovits in jedem Moment gelungen. Es ist kaum zu glauben, dass diese Musik live gespielt wird – doch geschieht genau das.
Das Leben Jesu als eine moderne Heldensage
Das Leben Jesu wird in dieser Inszenierung zu einer modernen Heldensage. Wer ist dieser Mensch? Ein Wunderheiler? Ein Magier? Ein Rebell? Die Antwort bleibt offen – und genau darin liegt die Kraft dieser neuen Deutung von Martin Leutgeb, der als Regisseur auch für die Textfassung verantwortlich zeichnet. Diese lässt Raum für Fragen, Zweifel, Interpretationen. Das Publikum ist immer wieder aufs Neue eingeladen, sich selbst ein Bild zu machen.
Ein besonderer Moment ist der erste, große Auftritt des Volkes. Binnen Sekunden füllt sich die Bühne mit Leben. Über 600 Menschen wirken an den Passionsspielen mit – rund ein Drittel des Dorfes. Fast jede Familie ist beteiligt oder über Freunde und Verwandte mit dem Spiel verbunden.
Das Gemeinschaftsgefühl ist allgegenwärtig – auch visuell: Die Kostüme von Juliane Herold setzen bewusst Akzente. Das leuchtende Gelb des Hohen Rates und das kräftige Orange des Volkes bringen nicht nur Struktur, sondern auch eine einprägsame Farbdramaturgie auf die Bühne.
Szenen, die unter die Haut gehen
Berührend sind die vielfachen Auftritte der Kinder, der jüngsten Passionsspieler:innen. Besonders die Figur der kleinen Sarah, die sich mutig für Christus einsetzt, wird zum Sinnbild für unsere Zeit. Sie nimmt die Erwachsenen in die Pflicht: Ihre Verantwortung sei es eine Welt zu hinterlassen, die lebenswert ist – nicht zerstört durch vorherige Generationen.
Die schauspielerische Leistung der Mitwirkenden ist durchgehend bemerkenswert. Besonders in den Massenszenen, die präzise choreografiert sind und dennoch Freiraum für echtes Spiel lassen, wird deutlich: Hier agiert ein Ensemble, das mit Herz und Seele bei der Sache ist. Die Darstellung bleibt authentisch und lebendig – kein Moment wirkt künstlich herbeigeführt.
Regie mit Gefühl für Form und Tiefe
Alle Spieler:innen arbeiten auf ausgesprochen hohem Niveau: Die Szenen mit Jesus’ Mutter entfalten eine ganz besondere Kraft, Maria Magdalena ist rührend in ihrer langmütigen Liebe, Kajaphas entwickelt eine kalte Bedrohlichkeit und der Apostel Johannes wird zum verzückten Verehrer des Herrn. Auch der Auftritt von Johannes dem Täufer – hoch über der Szenerie stehend, in einem effektvoll eingesetzten Wasserbecken – kann sich sehen lassen.
Martin Leutgeb hat mit großer Genauigkeit inszeniert. Seine Regie wechselt gekonnt zwischen ruhigen, intensiven Momenten und kraftvollen, dynamischen Szenen. Sprechszenen wie der Hohe Rat überzeugen durch klare Blicklinien und durchdachte Bildkompositionen. Die Inszenierung lebt nicht nur vom Handwerk – sie ist von innen heraus gelebt. Und das lässt sich nicht inszenieren, das muss man spüren. Besonders eindrucksvoll ist Leutgebs Gespür für emotionale Momente. Immer wieder schafft er Räume für Mitgefühl – für das Publikum ebenso wie für die Spieler:innen. Das letzte Abendmahl mit einem halb gesprochenen, halb gesungenen „Vater unser“ wird zu einem ergreifenden Höhepunkt. Es ist der erste Gottesdienst, in dem Jesus seine Jünger an das Kommende heranführt – schlicht und kraftvoll.
Zwischen Glaube, Liebe und Hoffnung
Zentrale Themen dieser Inszenierung sind die Sehnsucht nach einem Erlöser, der Wunsch nach Hoffnung und Sinn – universelle Gefühle, die Menschen auf der ganzen Welt verbinden. Sätze wie „Sie beten alle anders, aber sie beten alle zu dem einen Gott“ bleiben hängen – weil sie den Glauben als verbindende Kraft begreifen.
Die Regie macht das Publikum – gläubig oder nicht – zum Teil dieser Gemeinschaft. Wir werden zu Mitfühlenden, zu Komplizen. Und irgendwann wird klar: Es gibt keinen anderen Ausweg als dieses Opfer. Jesus bringt es aus freien Stücken – weil er weiß, dass seine Geschichte nur so unvergessen bleiben kann. Und unvergessen ist sie bis heute – auch dank der Passionsspiele in Erl, die seine Geschichte immer wieder neu erzählen.
Warum man es gesehen haben muss
Warum man sich das heute noch ansehen sollte? Weil es berührt. Weil es mitreißt. Weil ein Mensch so fest an das Gute glaubt, dass er bereit ist, dafür zu sterben. Und weil diese Überzeugung – so alt sie ist – in ihrer Radikalität aktueller nicht sein könnte.
Die Passionsspiele Erl werden noch bis 4. Oktober 2025 an zahlreichen Wochenenden aufgeführt. Insgesamt stehen 32 Spieltermine auf dem Programm. Karten sind online unter www.passionsspiele.at sowie telefonisch unter +43 5373 8139 oder per Mail an info@passionsspiele.at erhältlich. Aufgrund der großen Nachfrage wird eine frühzeitige Reservierung empfohlen.
Foto/c-Xiomara Bender