Vielfalt in Syrien wird Schritt für Schritt vernichtet

Sechs Monate nach dem Sturz des syrischen Diktators Bashar al-Assad warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) vor Naivität im Umgang mit den neuen islamistischen Machthabern: „Nach einem halben Jahr der islamistischen Herrschaft über das ursprünglich multi-religiöse Syrien sehen Minderheiten dort keine Zukunft mehr für sich”, berichtete GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido heute in Göttingen. „Die Machthaber um Ahmed al-Scharaa äußern sich nur vage zur Zukunft des Landes. Während die Menschen sich fragen, ob Syrien demokratisiert oder weiter islamisiert wird, eskaliert die Gewalt gegen ethnische und religiöse Minderheiten.” Dr. Sido ist im April ohne Kenntnis der Machthaber und ohne Begleitung durch das Informationsministerium in nahezu alle syrischen Provinzen gereist. Angehörige und anerkannte Vertreter der verschiedenen Minderheiten konnte er vertraulich interviewen.

„Während meiner Reise habe ich viele Anzeichen dafür gesehen, dass die neuen Machthaber die religiöse und ethnische Vielfalt in Syrien Schritt für Schritt vernichten und ein streng islamistisches Regime errichten wollen“, sagte Sido. „Die internationale und regionale Lage begünstigt dieses Vorhaben: Mit militärischer Unterstützung der Türkei und viel Geld aus Katar und anderen Golfstaaten werden islamistische Gruppen legitimiert und salonfähig gemacht. Selbst in Israel soll Katar in Abstimmung mit der Türkei viel Geld an Politiker, Journalisten und Denkfabriken verteilen, um eine islamismus-freundliche Politik zu begünstigen. Das berichtete mir Anfang Mai ein Journalist in Jerusalem“, erklärte Sido.

Mit Ausnahme der von Kurden kontrollierten Regionen im Nordosten Syriens sowie der Drusengebiete im Süden stehe das Land erkennbar unter türkischer Kontrolle: „In den von der Türkei besetzten Gebieten, wie der syrisch-kurdischen Region Afrin oder Idlib, wird nur noch mit türkischer Währung oder Dollar gehandelt. In Afrin sieht man überall türkische Flaggen, nicht nur auf Verwaltungsgebäuden, sondern auch an Checkpoints“, berichtete Sido. „Zudem kontrolliert die Türkei die Telekommunikationskanäle, also Telefon und WhatsApp, im ganzen Land. Aus diesem Grund haben mir Fachleute während meines Aufenthalts zur Vorsicht bei der Kommunikation mit Gesprächspartnern geraten.”

Während die Türkei die Gräber osmanischer Soldaten, die im Ersten Weltkrieg in Syrien getötet wurden, restauriert und großflächig mit türkischen Fahnen schmückt – wie in der Nähe des Grabs des legendären kurdischen Feldherren Saladin in Damaskus – wurden kurdische Friedhöfe und Gräber in Afrin vollständig zerstört. (s. angehängte Bilder)

Vor diesem Hintergrund wollen die Kurden und Drusen ihre Autonomie in keinem Fall aufgeben. Sie misstrauen den islamistischen Milizen, die nun in Damaskus an der Macht sind. „Nachdem genau diese Milizen im März die schutzlosen Alawiten massakriert haben, greifen sie nun vermehrt die Drusen an. Scheich Hikmat al-Hajari, das Oberhaupt der drusischen Minderheit und General Mazlum Abdi, der Chef der von Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte, fordern als Lösung ein föderales System für Syrien. Die deutsche Politik und die Medien sollten diese Forderung unterstützen, wenn sie ein islamistisches Regime in Syrien verhindern wollen“, so Sido.

Im Bild: Zerstörte kurdische Gräber auf einem Friedhof in der türkisch besetzten Region Afrin, April 202/c-Kamal Sido / GfbV