Jemand fragte eines Tages Michelangelo, wie man nur so etwas Wunderbares wie den David erschaffen könne. Michelangelo sagte: „Ich nehme mir den Marmorblock, und da ist er schon drin.”
Ein Künstler sieht auf andere Weise. Er beugt sich über einen Marmorblock und erkennt in ihm einen David. Kunst ist nicht Erfindung, sondern Findung: Ein Entdecken dessen, was irgendwo bereits vorhanden ist; ein Wecken von etwas, das noch schläft; ein Lauschen auf etwas, das sich äußern möchte. Der Eigenwillen des Künstlers muss hinter dem, was da laut werden will, zurücktreten. Ein Künstler ist ein Dienender; seine verfeinerte Wahrnehmung, die er ein Leben lang geschult hat, ist das Instrument, durch welches das Unsichtbare und Unhörbare sich äußern kann. Das wahrhaft Neue, die überraschenden Verknüpfungen von scheinbar unverbundenen Dingen, der erhellende Ausdruck für das Gewohnte entstehen immer aus der Fähigkeit, wach zu sein und klar zu sehen.
Unter dem Blick des Künstlers stellt sich das Gewöhnliche als das höchst Ungewöhnliche heraus. Kein Stein ist zu klein, kein Riss in der Mauer zu unbedeutend, um nicht die Aufmerksamkeit eines Künstlers zu fesseln. Wahre Kunst entsteht nicht aus dem Intellekt und nicht aus der „Fantasie”. Sie entsteht aus der tiefen Wahrnehmung dessen, was ist. Ein wahrer Künstler lehrt uns sehen und zeigt uns, dass unsere Wahrnehmung der Welt beschränkt und farblos ist. Wir sehen das Gewohnte, das, was zu sehen wir uns konditioniert haben. Die Arbeit des Künstlers weckt uns auf.
Ein Künstler des Lebens ist ein Mensch, der hinter die Oberfläche der Dinge sieht.