Der emeritierte Professor für Psychiatrie Allen Frances sagt, dass das neue Standardwerk der Psychiatrie zur Hyperinflation psychischer Krankheiten führt, so der “Tagesanzeiger”.
Psychiatrie, richtig ausgeübt an Personen, die effektiv darauf angewiesen sind, hilft wunderbar und ist absolut notwendig, wir haben aber die Grenze für Funktionsstörungen nach unten verschoben. Wir benötigen zu viele Medikamente für Leute, die ohne Medikamente oder mit Psychotherapie besser zurecht kommen würden, so Frances.
Er schreibt in seinem Buch „Normal“, dass in den USA 25 Prozent der Bevölkerung für Angststörungen qualifiziert sind, und sogar 50 Prozent müssen mit einer lebenslänglichen Diagnose einer psychischen Störung rechnen.20 Prozent der Bevölkerung nehmen Psychopharmaka zu sich. Jedes Jahr sterben mehr Menschen an einer Überdosis von verschriebenen Medikamenten als an einer Überdosis von Rauschgift.
In den letzten 20 Jahren hat es hauptsächlich drei falsche Epidemien gegeben. Die bipolare Störung bei Kindern (manisch-depressive Störung, Red.) hat um das Vierzigfache zugenommen, Autismus um das Zwanzigfache und das Aufmerksamkeitsdefizit um das Dreifache. Das Aufmerksamkeitsdefizit wird jetzt auch bei Erwachsenen diagnostiziert, und „bipolare Störungen“ haben sich bei Erwachsenen verdoppelt.
Der beste Indikator für die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizitstörung, besonders bei Knaben, ist die Frage, ob das Kind im Dezember oder Januar geboren wurde. Wenn du das jüngste Kind in der Klasse bist, geboren im Dezember, ist der Prozentsatz von ADD (Attention Deficit Disorder, Red.) fast zweimal so hoch, wie wenn du das älteste Kind bist. Was ist geschehen? Die Diagnose ist auf Kinder ausgeweitet worden, die unruhig und hyperaktiv, aber sehr wohl im Bereich der Normalität sind, meint Frances.
Effektiv haben wir die Unreife von Kindern in eine Krankheit verwandelt und haben Schulproblemen nicht genügend Beachtung geschenkt. Wenn Schulklassen zu groß sind, wenn wir nicht genügend Zeit für körperliche Betätigung einräumen, dann ist es möglich, dass wir unreife und unruhige Kinder als mit psychischen Problemen belastet bezeichnen und Geld für Medikamente ausgeben.Wir sollten Pharmakonzerne nicht mit großen Gewinnen aus dem Verkauf von Medikamenten für inexistente Krankheiten belohnen. Dieses Geld sollte in bessere Schulsysteme fließen.
Der Stress, dem wir heute ausgesetzt sind, ist viel geringer. Burn-out ist ein Luxus. Wer genug Essen auf dem Tisch und sonst keine großen Probleme hat, kann ein Burn-out haben. Ein Burn-out kann man nur haben, wenn alles andere im Leben prächtig funktioniert.
Frances glaubt, dass wir den falschen Drogenkrieg führen. Wir kämpfen ohne Erfolg seit 40 Jahren gegen Drogenkartelle und zerstören Mexiko. Die Legalisierung von Drogen ist der einzige Weg, um sie auszuhebeln. Pharmakonzerne aber könnten wir kontrollieren, wir könnten strengere Gesetze machen, Werbung verhindern, ihr Marketing an die Adresse von Ärzten dramatisch reduzieren. Die Niederlage der einst mächtigen Tabakindustrie sollte uns in einer Situation Hoffnung geben, in der Hunderte Milliarden für Überbehandlung ausgegeben werden. Wir sollten die Leute zu gut informierten und skeptischen Konsumenten erziehen. Es gibt nicht für jedes Problem eine Pille.
Die ersten Ärzte waren Zauberer, Schamanen. Die nächsten waren Priester. Wenn man sich die Geschichte der Medizin anschaut, gab es nicht viele aktive Behandlungen, die wirklich funktioniert haben. Manchmal hat man sogar Gift verabreicht, Arsen, Quecksilber, und der Aderlass war 2000 Jahre lang sehr populär. Trotzdem waren Ärzte immer sehr respektiert. Wenn jemand zum Arzt geht, ist schon nur seine Hoffnung, verstanden und behandelt zu werden, für seine biologische Konstitution sehr hilfreich.